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1951 bis 1998

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20 lfm., Fotosammlung

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Pfarrer Walter Schilling (geb. 28.2.1930, gest. 29.1.2013) gilt als geistiger Vater und charismatische Vertreter der Offenen Jugendarbeit (OA) der Evangelischen (Ev.) Kirche im Raum Thüringen. Als Pfarrerssohn in Sonneberg geboren, studiert er von 1950 bis 1955 Theologie in Münster, Heidelberg und Jena. Ab 1957 tritt er die Stelle des Kreisjugendpfarrers in Rudolstadt an und baut ab 1959 das kirchliche Jugendheim Braunsdorf auf. Seit 1968 ist er maßgeblich an der Konzeption und dem Aufbau der OA in Thüringen beteiligt.
Die überlieferten Materialien aus der Amtstätigkeit Schillings reichen bis zu dessen Ruhestand im Jahr 1995. Es sind Exegesen und Predigtentwürfe der Jahre 1954 bis 1962, Arbeitsmaterial aus der Tätigkeit im Ev. Pfarramt Braunsdorf von 1957 bis 1998 sowie Briefe an Schilling von 1953 bis 1994 enthalten. Ein Arbeitshefter „Rüstzeitheim Braunsdorf“ (1965 bis 1967) enthält Bauunterlagen, Vertragsentwürfe für die Benutzung und Unterhaltung als Gemeinde- und Jugendheim sowie Berichte über rechtliche Problemlagen. Ab 1968 setzt der Landeskirchenrat (LKR) Eisenach zur Verwaltung des Gemeindehauses Braunsdorf ein Kuratorium ein, dessen Sitzungsprotokolle für den Zeitraum 1972 bis 1980, ebenso wie die Belegungs- und Heimnutzungspläne von 1975 bis 1980 überliefert sind. Auch das Protokoll über die Hygienekontrolle im Juli 1974, die folgende Anordnung der sofortigen Schließung des Heims in Verbindung mit einem strengen Amtsverweis und dem Entzug der Heimleitung durch den LKR gegenüber Schilling und diverse Unterstützer-Korrespondenz sind vorhanden. Weitere Arbeitsmaterialien der Jahre 1968 bis 1972 sind Notizhefte aus Schillings Tätigkeit im Dienstagskreis Rudolstadt, in der Jungen Gemeinde (JG) Rudolstadt sowie im Diskussionskreis Saalfeld. Die Korrespondenz von 1968 bis 1971 gibt Einblicke hinsichtlich der wachsenden Verbindung der Saalfelder, Rudolstädter und Bad Blankenburger JGs mit Mittelpunkt Braunsdorf, in andauernde Probleme mit dem Rüstzeitheim bezüglich Baubestimmungen, Hygiene und Aufsichtspflicht, aber auch in persönliche Konsequenzen für Schilling, wie das Einreiseverbot von Schwester und Mutter aus der Bundesrepublik. Weiterhin thematisiert werden hier vielfältige Probleme auf Grund musikalischer Gottesdienste, des Abspielens von Musik zu den JG-Abenden und Schillings Eintreten für die Musikbands „Ulysses“ und „Medinas“. 1978 und 1979 schließlich veranstaltet die OA Saalfeld/Rudolstadt die „JUNE“-Wochenenden. Zu diesen Großveranstaltungen wird Rudolstadt Anziehungspunkt für Jugendliche aus der gesamten DDR. Überliefert sind hier Schillings Arbeitshefter „JUNE 79“, der zugehörige Holzdruckstock für die Plakate aber auch das Röhrentonbandgerät zur Aufzeichnung der Konzerte und Gottesdienste.
Ein Kuratoriumssitzungsprotokoll vom 28.11.1979 weist jedoch sehr viel weiter gefasste Arbeitsaufgaben Schillings auf: Leitungskreis der DDR für sozial-diakonische Arbeit und damit verbundene Einzelseelsorge; Verantwortlichkeit und Begleitung sozialdiakonischer Arbeit in Jena, Gera, Erfurt, Halle; Aufbau Modell Braunsdorf mit ambulanter Betreuung von sozialgeschädigten jungen Menschen; Mentor für Musigmann in Erfurt und Rochau in Halle; Mitarbeit in der Arbeitsgruppe Berufstätige Jugend beim Bund der Ev. Kirchen in der DDR. In diesem Sinne setzt sich Schilling besonders für Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Umfeld der OA, die in Konflikt mit dem Staat geraten, ein. Hier sind Notizen und Korrespondenz, beginnend mit seinem Einsatz für verhaftete junge Erwachsene in Oelsnitz und Plauen im Jahr 1979, enthalten. Im Jahr 1981 häufen sich die kriminalpolizeilichen Übergriffe. In Halle-Neustadt werden Jugendliche unter dem Vorwurf der staatsfeindlichen Hetze verhaftet; Matthias Domaschk und Peter Rösch aus Jena werden im April 1981 verhaftet, was zum bis heute nicht zweifelsfrei geklärten Tod von Domaschk in der Untersuchungshaftanstalt Gera führt und in Berlin werden die Gäste der Wohnungseinweihungsfeier von Katrin Schilling verhaftet. Um ein gezieltes staatliches Vorgehen gegen Jugendliche aus der OA nachzuweisen, fordert Schilling die Betroffenen auf, das Erlebte in Gedächtnisprotokollen festzuhalten. Diese stellt Schilling in Belegmappen zusammen und sendet Sie, verbunden mit der eindringlichen Aufforderung zum Handeln, an diverse Vertreter der Ev. Kirchenleitung sowie Rechtsanwalt Wolfgang Schnur. Zwei Fassungen dieser „Belegmappen“, zum Teil mit zusätzlichen Protokollen, sind vorhanden. Weitere Belege der überregionalen Begleitung der Offenen Arbeit durch Schilling in der ersten Hälfte der 1980er Jahre sind beispielweise Briefe aufgrund der Suspendierung von Lothar Rochau in Halle-Neustadt, oder auch Material zum „Montagskreis“ der JG Weimar, aus welchem die vergeblichen Versuche des Aufbaus einer OA Weimar seit Gründung des Arbeitskreises im Sommer 1981 bis 1985 deutlich werden.
Ab 1987 ist Schilling Mitinitiator und Organisator des „Kirchentags von Unten“ und wird 1989 durch die Ev. Kirche Berlin-Brandenburg zum Begleiter der „Kirche von Unten“ berufen. So ist unter anderem der Brief des Thüringer LKR an Schilling zur Genehmigung der Freistellung für die Aufgaben der OA Berlin für Juni bis Dezember 1989 enthalten. So erlebt er am 7. Oktober die polizeilichen Übergriffe auf friedliche Demonstranten in Berlin und dokumentiert diese in einem großformatigen tabellarisches Zeit- und Ereignisprotokoll.
Anfang der 1990er Jahre wird Schilling, der selbst in den 1970er und 1980er Jahren wegen vielfältiger Kontakte zu oppositionellen Gruppen durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bearbeitet und überwacht wird, Berater des Untersuchungsausschusses der Ev.-Lutherischen Kirche in Thüringen zur Aufarbeitung von Verstrickungen kirchlicher Amtsträger mit dem MfS. 1993 gibt er unter Mitwirkung einer privaten Forschungsgruppe und des ThürAZ den Quellenband „Die „andere“ Geschichte. Kirche und MfS in Thüringen“ heraus. So bilden zahlreiche Briefe, Manuskripte, Gutachten, Referate, Forschungsmaterial, aber auch Kopien aus MfS-Akten, darunter ein Bericht über einen Vortrag von Schilling über die Methoden des MfS in der JG Stadtmitte Jena im März 1987, einen Schwerpunkt der Sammlung.
Samisdat der staatlich unabhängigen Friedensbewegung der 1980er Jahre und Rundbriefe zu Friedensthemen verschiedener ev. Kirchgemeinden sowie Fotografien, welche Schilling in allen Lebensphasen seit seiner Hochzeit mit Eva Schilling abbilden, ergänzen den Bestand. Zahlreiche Interviews im Zeitzeugenbestand des ThürAZ ordnen die Entstehungsgeschichte der Sammlung sowie die Wirkungsgeschichte Schillings zusätzlich ein.